Sozialkompetenzen

Donnerstag 12. November. Räbenlichtumzug der gesamten Schule. Kurz vor 18:00. Es ist dunkel. Die erste Winterkälte macht sich bemerkbar. Ein leicht spürbarer Kribbelschauer um die Magengegend lässt mich als ‚Neuling’ erkennen. Die emporsteigende Neugier und die elterliche Liebe und Zuneigung, wohl ehrlicherweise immer auch gepaart mit ein wenig Stolz, lassen mich eine wärmende Woge verspüren, die vermeintlich jeglicher Novembernacht zu trotzen vermag. Ich habe mich insofern von der Vernunft leiten lassen, als dass ich zu Mütze, Schal und Handschuhe griff, bevor ich mich ins Abenteuer stürzte. Die Hauptrequisite am heutigen Abend, einst eine ganz profane Räbe, hat sich in eines der schönsten Laternen umgestalten lassen. Dabei Spielt es keine Rolle, wie schief oder wie viele ‚Ver-Schnitzer’ diese Räbe zieren. Allein der Gedanke zählt, dass diese, wohl wissend mitunter tatkräftiger Beihilfe Zweiter & Dritter (dieser Aspekt wird jedoch gekonnt in den Hintergrund gedrängt), aus den Händen des geliebten Sprösslings stammt. Einst noch hilflos, schutzsuchend und wonneproppig in den Armen liegend, jetzt insofern selbstständig, solch schöne Kunstwerke wie das ‚Räbeliechtli’ herstellen zu können.

‚Wir würden uns über Zuschauer am Strassenrand freuen und bitten Sie höflich, nicht zwischen oder neben den Schülerinnen und Schülern mitzulaufen.‘

So stand es in der Elternmitteilung. Ja klar. Schiebt man mal diese elterliche überschwänglich Liebe zur Seite und macht der Vernunft Platz, dann erscheint es nichts als logisch und irgendwie total überflüssig, dies zu erwähnen. Wenn da eben nicht die jeglichem Rationalismus strotzende elterlicher Fürsorge wäre. Also los. Schreiten wir in die junge Nacht hinaus und übergeben unsere Kinder in die Obhut kompetenter Lehrpersonen. Die Räben erhalten ihr Licht und irgendwie beginnt sich eine mystische Atmosphäre aufzubauen. Zumindest bilde ich mir das zu dem Zeitpunkt (fast) ein. Wären da nicht all die schwer erfahrenen Eltern, die diese Tradition nun zum dritten oder gar vierten Mal miterleben. Mit einer selbstverständlichen Art und Weise vermittelt eine Mehrheit dieser Masse eine grosse Sachkompetenz. Nicht nur im Umgang mit solchen Ereignissen, sondern auch darin, wie man einen solch speziellen Anlass zu einem ganz normalen Kaffeeklatsch umgestalten kann. Wie gesagt, ich bin emotional befangen, das Erste Mal! Während sich die Kinder zum Umzug aufstellen, versammeln sich alle traubenartig um die ersten Meter der Umzugsroute. Das heisst, um und neben dem Schulhaus, wo zum Schluss sich alle nochmals auf dem Pausenplatz versammeln und Lieder gesungen werden. Anschließend die Kinder einen Nussgipfel erhalten und von den Eltern wieder in Empfang genommen werden können. Der Umzug beginnt um 18:00. Es ist 18:00. Die öffentlichen Strassenlichter werden ausgeschaltet. Treicheln eröffnen den Umzug und die Lichter, getragen von unseren Kindern, setzten sich in Bewegung. Begleitet mit stimmlicher Untermalung.

Spätestens hier müsste nach meinem Empfinden die elterliche Mitteilsamkeit soweit verstummt sein, um den Gesang der Kinder lauschen zu können. Zugegeben, aller Wahrscheinlichkeit nach empfände ich als Räbelichtli-Experte das Treiben auch nicht mehr ganz so aufregend (obwohl die Weihnachtszeit heute noch seinen Zauber auf mich ausübt, so quasi als Weihnachtsexperte!). Schön ist es aber allemal und ich freue mich auch schon auf die Rückkehr der Kinder. Wir somit noch einmal die Chance erhalten, die prachtvolle Lichterkette bewundern zu können. Zur Erinnerung. Wir stehen in der Nähe des Schulhauses, dem Ausgangs/Endpunkt des Umzuges. Doch was geschieht da?

Lernziel Nummer 2 des Kindergarten Lehrplans, ‚Sozialkompetenz’ soeben gestürzt wird. Die Fähigkeit, in der Gemeinschaft Verantwortung wahrzunehmen und angemessen zu handeln.

Der erste Trupp des Umzugs steht kurz vor dem Finale. Geht an uns vorbei. Er zieht automatisch eine Mehrheit der Zuschauer in seinen Bann und in die wahre Mitte. Fast jedes von seinen Eltern erspähte Kind wird von nun an von denselbigen auf den letzten 100 Metern begleitet. Die Kinder lösen eine enorme magnetische Anziehungskraft aus und Schwupp, befinden sich die Eltern inmitten des Umzugsgeschehens. Nun steh ich schon fast ganz alleine am Strassenrand, ein wenig fassungslos, das Geschehen beobachtend. Zugegeben, der innere Drang sein Kind von nun an zu Begleiten und ihm zeitgleich auf den Pausenplatz zu folgen, ist gross. Dennoch sollte hier der Vernunft dem Instinkt Vorrang gegeben werden. Nicht nur, um den Umzug nicht zu stören, sondern um all den noch folgenden Kindern den nötigen Respekt zu zollen. Jedes Kind hat die gleiche Aufmerksamkeit verdient!

Auch wenn man selber nicht mehr so richtig an den Weihnachtsmann glauben mag, so kann man zumindest auch hier den Anschein wahren, dass es sich hierbei um eine besondere Angelegenheit handelt. Was es ja auch ist. Immerhin ist es in meinen Augen etwas besonderes, wenn man in der Nacht durch dunkle Strassen zieht, eine Laterne führend und singend eine Atmosphäre versucht heraufzubeschwören. Spätestens jedoch beim gemeinsamen Singen auf dem Pausenplatz wäre das Mindeste, der Anstrengung der Kinder und Lehrpersonen den nötigen Anstand zu erweisen und mal für ein paar Minuten zu verstummen. Zumindest die plaudernde Mehrheit sich nicht noch extra in den Vordergrund zu drängen braucht, um die 1. Reihe zu besetzen.

In der Zeit, wo wir vergessen den Moment zu erleben und uns lieber damit beschäftigen eben diesen auf irgendwelche digitalen Medien festzuhalten anstelle unser Herz und Sinne dafür zu verwenden, wäre es wichtig, für einen Moment dem Alltag zu entrinnen und diese Momente stattdessen für alle Ewigkeit in unseren Herzen abzuspeichern. Es gibt nicht immer für alles im Leben einen ‚Replay‘ Knopf.

Das Erklingen des grossen Tamburins auf dem Pausenplatz, um den bevorstehenden Gesang anzukünden und unsere Aufmerksamkeit zu erhaschen, sollte in uns das Bedürfnis erwecken für ein paar Minuten ebendies zu versuchen. Lassen wir uns das nächste Mal verzaubern und lauschen wir den Stimmen unserer Kinder, die da in die Nacht hinaus getragen werden. Einfach mal kurz Inne halten und die schöne Stimmung geniessen,  uns und unseren Kindern zuliebe.

15 Gedanken zu “Sozialkompetenzen

  1. Du warst wahrscheinlich die Einzige in dem ganzen Trubel, die verstanden hat, worum es eigentlich geht! Du hast die Stimmung so geschickt eingefangen, dass ich in Gedanken gerne die anderen Eltern angeraunt hätte, einmal die Klappe zu halten ! Deine Texte sind wie eine Praline für mich, ich geniesse sie ganz langsam 😉 LG Ann

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  2. Ich glaube, ich habe noch nie einen Text gelesen in dem es jemand geschafft hat, so schön wie du einen Umzug zu beschreiben. Man hat fast das Gefühl man stünde mit dir am Straßenrand zwischen all den anderen Eltern :-). Sehr schön!
    Liebe Grüße
    Isabell

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