Verflixt und Zug-enäht

Ein kalter, nassgrauer Februarmorgen begrüsst mich. Es ist 6:30 in der Früh.
Mein Smartphone, alias Wecker, gibt sich alle Mühe. Ich trenne mich höchst ungern von den wohlig warmen Daunenfedern. Beim Dritten Mal gebe ich mir einen Ruck. Eine kurze Schrecksekunde. Sie lässt mich daran erinnern, dass ich heute nicht zeitungebunden bin. Ich muss mein geliebtes Auto in der Garage stehen lassen. Stattdessen habe ich mich exakt an die Fahrplanzeiten zu halten. Es schaudert mir. Nur schon die auraignorierenden Sitznachbarn im 4er-Abteil. Hinzukommen all die hustenden und schniefenden Leidensgenossen. Also ehrlich, ich liebe mein Auto! Bevor ich mich auf den Weg mache, wecke ich Nick. Er muss in den Kindergarten. Ich habe noch genügend Zeit, Nick ohne Hektik in den neuen Tag zu begrüßen.  Mir anschließend in aller Ruhe die Schuhe, Jacke und Mütze anzuziehen. Handschuhe sind griffbereit. Mami, Mami, wohin gehst du? Ich erkläre ihm, wie am Vorabend besprochen, dass ich heute früher aus dem Haus müsse, um zur Arbeit zu gelangen. An diesem Morgen, es  offensichtlich  nochmals Kummer bereitet.  Nach ein paar Minuten guten Zuredens bin ich erleichtert feststellen zu können, dass Nick sich mit den Erklärungen zufrieden gibt. Mit einem dicken Kuss und Umarmung verabschieden wir uns. Schnellen Schrittes nähere ich mich der Bahnhaltestelle. Mir wird warm. Trotz der nassgrauen und kalten Umgebung. Geschafft! Glücklich, rechtszeitig angekommen zu sein, spüre ich, wie sich nun die Kälte an meiner Nase zu schaffen macht. Es kitzelt bedürfnisvoll. Mist! Ich habe die Tempos vergessen. Ein Notfallplan muss her. Ich beobachte die Leute auf dem Bahnsteig. Welcher Typ Mensch hat wohl am ehesten Taschentücher bei sich und wo steigen die meisten Passagiere ein? Meine Sitzplatzwahl wird dementsprechend beeinflusst. Mein 1. Klasse Ticket wird befliessend ignoriert. Ich steige hoffnungsgeschwängert in die 2. Klasse mit ein. Ganz locker und ohne falsche Scham frage ich mein Gegenüber. Nee, leider nein. Gut, dass eine Gymnasiastin oder Auszubildende eher keine Taschentücher dabei hat, das hätte ich mir denken können.  Ich erinnere mich an meine Zeit zurück.  Ich hatte aber auch niemals eine solche Mordshandtasche bei mir, die so verheissungsvoll aussah. Gut. Ich habe mich ja nicht nur auf eine Person verlassen. Die junge Frau (meines Alters!) im Abteil nebenan, ist das neues Ziel. Meine Bitte ist gestellt. Spontan greift sie zu ihrer Handtasche, was mir ein positives Signal sendet. Sie besinnt sich. Was innerhalb einer Millisekunde passiert. Zieht die Hand zurück, lässt mich wissen, dass sie keine hätte. Mehr ein wenig zu sich selbst gerichtet, die bräuchte sie alle selber. Ich bin irritiert. Wie weit hat uns der Wohlstand gebracht? Habe ich soeben um das letzte übriggebliebene Stück Brot gebeten? Klammert sich an ihre Taschentücher, wie wenn es kein Morgen mehr gäbe. Also ehrlich. Ich versuche mich wieder zu ordnen. Das erste Tröpfchen Nasenwasser formiert sich derweil gefährlich. Die Schwerkraft spielt gegen mich. Noch aber habe ich Zeit. Da! Ein betagter Herr zieht ein Taschentuch hervor und, ..schnäuzt.
Doch lieber nicht fragen! Der Zug hält. Mein Abteil wird frei. Leute steigen ein. Ein gepflegter Mann und sein Kind setzen sich zu mir. Das Schicksal meint es gut mit mir. Eltern haben IMMER Taschentücher dabei (ich bin die Ausnahme). Ohne zu Zögern und mit verständnisvollen Blick händigt er mir ein fein säuberlich gefaltetes und frisch aus der Verpackung gezogenes Taschentuch aus. Ein Glücksgefühl und eine unbeschreibliche Erleichterung setzen ein. Ich schenke den beiden mein dankbarstes Lächeln. Sie lächeln leicht amüsiert zurück.
Sieg! Ich bin der G-Kraft zuvorgekommen. Und nun zu (entschuldigt, ich werde ein wenig emotional) all den schwarzen Leggins tragende Frauen, kombiniert mit klassisch langweilig nachgeahmten Reiterstiefeln (den Reisverschluss über die ganze Stiefelrückseite hochziehend) und aalglatte, fuchsbraune Leder-Riesenhandtasche als peppiges Modeaccessoire mit anhängend; lasst euch beim nächsten Mal erweichen. Eine triefende Nase inmitten zivilisierter Menschen, ist nicht lustig.

Wenn man nicht gerade auffallen will, wie man den eigenen Rotz am Ärmel abstreift.

photo by Robin Röcker

2 Gedanken zu “Verflixt und Zug-enäht

  1. Heinz Erhard hatte dazu passend ein Gedicht: 😉

    Die Nase

    Wenngleich die Nas, ob spitz, ob platt,
    zwei Flügel – Nasenflügel – hat,
    so hält sie doch nicht viel vom Fliegen;
    das Laufen scheint ihr mehr zu liegen.

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